THOMAS DÜRST FOTOGRAFIE

Graffiti und Street Art:
East Side Gallery Berlin

(18. April 2020; überarbeitet 14. Okt. 2023)
Im Jahr 1990 bemalten 118 Künstlerinnen und Künstler aus 21 Ländern ein 1,3 Kilometer langes Stück der Berliner Mauer an der Mühlenstraße (Berlin Fried­richshain) mit 106 Bildern. So entstand die bis heute weltweit größte Frei­luft­galerie.

Wenn es auch andere große Freiluft-Galerien gibt (z.B. an der   Donners­berger Brücke in München), so hat die East Side Gallery doch eine ganz besondere Bedeutung:

  • Die Berliner Mauer war das Symbol der Teilung Deutschlands schlecht­hin; nach der Wiedervereinigung ist der Mauerrest ein architektonisches Zeugnis dieser unmenschlichen Grenze und ihrer friedlichen Über­windung.

  • Die Bilder haben einen unmittelbaren Bezug zur Teilung bzw. Wieder­ver­einigung Deutschlands (und damit zur Mauer). Sie setzen sich teils Freude ausdrückend, teils humo­ristisch, teils mahnend, teils hoff­nungs­voll mit der Teilung, ihrer Aufhebung und der Zukunft der menschlichen Gesellschaft auseinander. Ohne die Bilder wäre dieses Stück Mauer wohl längst abge­rissen, und es gäbe einen Erinne­rungsort weniger.

Obwohl dieser Mauerrest bereits ein Jahr nach Fertigstellung der Bilder unter Denkmalschutz gestellt wurde, hat kein Bild im Original bis heute überlebt. Schon 2006 wurden einzelne wegen eines Bauvorhabens mitsamt einem Mauerstück ent­fernt, später noch weitere. Alle waren von Anbeginn an der Witterung ausgesetzt und vor allem dem Vandalismus von Besuchern. Zwar wurden 2009 fast alle Werke von den Künst­lerinnen und Künstlern selbst restauriert (was in vielen Fällen einer Neuanfertigung gleichkam); 2015 erfolgte auf Initiative des Bezirks Fried­richs­hain-Kreuzberg eine erneut notwendig gewordene Restauration, die allerdings nicht alle Werke umfasste. Dadurch sind alle Bilder nicht mehr so erhalten, wie sie ursprünglich von den Künst­lern und Künst­lerinnen angelegt worden waren.
Offenbar ist den einen Geschäfte­macherei wichtiger (z.B. Entfernung eines Mauerstücks für den Bau von Luxus­wohnungen und Büros), andere — wohl überwiegend Touristen — haben das dringende Bedürfnis allgemein kund zu tun, dass sie hier waren (siehe Wir waren hier); wieder andere brachten passende oder un­passende Ergän­zungen an oder malten einfach darüber.

Als ich die East Side Gallery 2013 zum ersten Mal besuchte, waren also (wegen der Renovierung 2009) alle Bilder nicht mehr im Originalzustand und viele, wohl bereits zum wiederholten Mal, mit Graffiti übermalt. Einige meiner Fotos zeigen daher Beispiele der Übermalungen auf Ausschnitten der origi­nalen (restaurierten) Werke. Glücklicherweise gibt es Fotos der 2009 restaurierten Bilder (in manchen Fällen vielleicht auch der Originalbilder — das geht aus der Seite nicht klar hervor) noch  hier zu sehen. In  Google Street View konnte man sehen, in welch erbärmlichem Zustand die Werke im Sommer 2008 gewesen waren. Aktuell sind hier allerdings die Bilder im Zustand vom August 2023 zu sehen.

Die Bilder befinden sich auf der ehemals ostberlinischen Seite der Mauer, daher der Name „East Side Gallery“. Nähere Angaben zu ihrer Geschichte findet Ihr z.B. auf der Seite der  Stiftung Berliner Mauer, die seit 2018 für den Mauerrest zuständig ist.
Die ehemalige Westberliner (Spree-)Seite ist übrigens auch bemalt, allerdings mit wechselnden Werken, meist mit „normalen“ Graffiti, manchmal abschnitts­weise auch mit Wandbildern zu bestimmten Themen.

Alle Fotos: © Thomas Dürst 2020
Die Angaben in Klammern benennen den Aufnahmezeitpunkt




Gruppe Stellvertretende Durstende: „Wir haben versucht, Farben über die Mauer hinübergelangen zu lassen“ (kurz: „Farbe Übertrag“)
oben: August 2013 (Ausschnitt), mit u.a. dem von anderen durchgestrichenen Kommentar „We want the wall back“.
unten: August 2018; Gesamtwerk nach der Restaurierung



Christine Kühn: Touch The Wall (Ausschnitt)
(August 2013) Ursprünglich waren von der Künstlerin lediglich die farbig ausgefüllten Handabdrücke angebracht worden. Diese wurden von Besuchern mit Hand-Umrissen ergänzt, oft mit Datum und Namen der Urheber versehen. So entstand eine Interaktion zwischen Werk und Besuchern, die auf der ursprünglichen Absicht der Künstlerin beruht. Leider wurden auch andere, thematisch unpassende, Graffiti angebracht.





Thomas Klingenstein: Umleitung in den japanischen Sektor (Ausschnitte)
oben: August 2013 / Mitte: November 2015 / unten: August 2018, nach der Restaurierung



Lance Keller: The Wall (Ausschnitt)
(August 2018) Dieses Werk wurde 2015 nicht restauriert. Es wurde seit 2009 dermaßen mit Graffiti „verziert“, dass die ursprüngliche Darstellung nur noch mit Mühe erkennbar ist: eine Mauer mit Durchbrüchen, durch die hindurch die Welt auf der anderen Seite in Ausschnitten sichtbar wird.



Carsten Jost: Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln (Ausschnitt)
(August 2013) Die Aufkleber wurden nachträglich angebracht; sie gehören nicht zum ursprünglichen Werk.



Yvonne Onischke (Matzat): Berlin bei Nacht (Ausschnitt)
(April 2014) „Endlich 18! Happy Birthday Ino“ — das hat nun überhaupt nichts mit dem Werk zu tun.



Gerald Kriedner: Götterdämmerung (Ausschnitt)
Auch der gelbe Fleck gehört wie die Graffiti nicht zum ursprünglichen Werk.



Ines Bayer: Es gilt viele Mauern abzubauen
(August 2018) Es gibt (leider) Menschen, die das anders sehen, was wohl einen Schreiber veranlasst hat, seine Meinung über den ehemaligen amerikanischen Präsidenten an dieser Stelle kund zu tun. Das Graffiti „Mexiko is the Shit“ bezieht sich auf die gleichnamige Modemarke, die mit diesem Slogan genau das Gegenteil dessen ausdrücken will, was man ohne Kenntnis der Hintergründe vermuten würde (siehe z.B.  Mexicans Are Freaking out about ‘Mexico Is the Shit’ Fashion). Auch dies ist also eine Botschaft an den amerikanischen Präsidenten, während die meisten anderen Graffiti keinen Zusammenhang zum Bild aufweisen.



Jim Avignon: Doin It Cool For The East Side (Ausschnitt)
(August 2018) Ein Bild ohne Graffiti! Die Oberbaumbrücke, hier vereinfacht dar­gestellt (tat­säch­lich ist sie eine Straßen-, Fußgänger- und U-Bahn-Brücke in einer), verbindet über die Spree hinweg die Stadtteile Friedrichshain (ehemals Ostberlin) und Kreuzberg (ehemals Westberlin). Sie war ab dem Mauer­bau bis zur Maueröffnung für jeglichen Verkehr gesperrt; nur Fußgänger durften passieren. Im Umgriff der Oberbaumbrücke sind in der Spree mehrere (erwachsene) Menschen bei Flucht­versuchen und fünf Kinder beim Spielen ums Leben gekommen.
Heute verbindet die Oberbaumbrücke die In-Viertel um das Schlesische Tor und die Falcken­steinstraße (Kreuzberg) und um die Warschauer Brücke und die Revaler Straße (Friedrichs­hain).
Jim Avignon lehnte es ab, im Rahmen der Restaurierung 2013 sein ursprüngliches Werk von 1990 wieder herzustellen und malte stattdessen ein Bild mit der Darstellung des aktuellen Lebens im Umgriff der Oberbaumbrücke.



Gabriel Heimler: Der Mauerspringer
(August 2018) Der „Mauerspringer“ ist eines der bekanntesten Motive der East Side Gallery.



Kani Alavi: Es geschah im November
(August 2013) Eng gedrängte Menschen, die nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 in den Westen wollen, aber sie wissen nicht genau wohin und auch nicht, ob sie wieder zurück können. Diese gemischen Gefühle drücken sich in der unterschiedlichen Mimik der Personen aus.



Andrej Smolák: ohne Titel
(August 2018) Viele Menschen waren in der DDR nicht nur symbolisch „inhaftiert“, sondern auf­grund ihrer Kritik am System ganz real.




Weitere Quellen:

 Mauerstücke müssen neuem Wohn- und Hotelkomplex weichen
(B.Z., 6.1.2018; aufgerufen am 14.10.2023)
 Künstlerinitiative East Side Gallery e.V.
(aufgerufen am 14.10.2023)
 East Side Gallery in Berlin: The 10 Most Famous Murals!
(aufgerufen am 14.10.2023)
  Berliner East Side Gallery wird aufpoliert
(Berliner Morgenpost, 14.04.2009; aufgerufen am 14.10.2023)



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© Thomas Dürst 2023